Vom Biopatriotismus eines Ostseestaates: Erbgutscreening in Estland

Im molekularbiologischen Zentrum der alten Universitätsstadt Tartu in Estland herrscht wissenschaftsgläubige Zuversicht: Hier soll gemäß Regierungsbeschluss ab Herbst 2002 ein groß angelegtes Screening-Projekt über die Bühne gehen, bei dem das Erbgut des 1,5 Millionen Köpfe zählenden baltischen Volkes durchleuchtet wird.

Die Nachricht ist zwar schon nicht mehr ganz brandaktuell, aber dadurch kaum weniger brisant: Jeder Este darf sich freiwillig (!) einer Blutspende unterziehen, nach Befragung und DNA-Analyse wird seine Gensequenz mit Namen, Hobbys, Eigenheiten und Krankheiten in einer zentralen Datenbank gespeichert.

Die Daten werden an der Börse notiert und wandern dann je nach Nachfrage auf dem genetischen Markt gegen saftige Bezahlung an interessierte Unternehmen, etwa an Versicherungen und Pharmakonzerne, wobei sich letztere bereits in sanften Träumen von der individualisierten Allgemeinmedizin wiegen, von den auf den Genotyp eines jeden Patienten abgestimmten Pharmaprodukten. Nebenbei kann man ein spezifisch estnisches Label schaffen und eine preiswerte Fahrkarte in Richtung biologische Ewigkeit der Ethnie und des Individuums erwerben.

Das Vorbild für dieses nationale Prestigeprojekt einer aufstrebenden Riege von Wissenschaftlern ist übrigens das bereits 1996 von Decode Genetics und Roche gemeinsam initiierte Genomprojekt in Island. Aber die Esten liefern nun einmal, ganz abgesehen von der zahlenmäßigen Überlegenheit, durch die schlichte Tatsache, dass sie Kontinentaleuropäer und daher genetisch eher durchmischt sind, das für eine Entzifferung interessantere Erbmaterial.

Seit dem als sinister eingeschätzten Amerikaner Craig Venter 2000 der Coup gelang, das menschliche Genom lesbar wie ein Kochrezept zu machen, fehlt nur noch eine geeignete Interpretation des Erbgutes, um es für die verschiedensten Zwecke nutzbar zu machen. Nachdem die vom amerikanischen Kongress ausgerufene „decade of the brain“ leider schon mit Beginn des Millenniums vergangen ist, befinden wir uns jetzt allem Anschein nach im „century of the biotic systems“, Wortschöpfungen mit dem Präfix „Bio-“ haben Hochkonjunktur.

Fest steht jedenfalls: Ein Großteil der Esten empfindet die Möglichkeit einer solchen Blutprobe nach Jahrzehnten der Gewalt- und Fremdherrschaft verschiedenster Couleur offenbar als Segnung einer letztendlich triumphierenden Freiheit westlichen Zuschnitts. Dieser Beitrag zur vermeintlichen Beantwortung der quälenden Frage nach Sinn und Simulierbarkeit des (menschlichen) Organismus ist aber meiner Einschätzung nach alles andere als ein gefahrloser Dienst am Menschheitsfortschritt und lässt sich nicht mit Blick auf politische Befindlichkeiten und kollektive Erinnerungen verordnen.

Ich möchte hier nicht die Frage nach der möglichen biopolitischen Steuerung einer Gesellschaft durch Keimbahnmodifizierung und Eugenik erneut aufwerfen, da die larmoyanten Wehklagen über die Möglichkeit, dass die neuesten Errungenschaften in „schlechte Hände“ (wer sind denn eigentlich diese sabotierenden Dunkelmänner?) geraten könnten, noch immer nicht verstummt sind.

Hingegen stelle ich die Frage in den Raum, ob nicht eine eher nüchterne ethische Kosten-Nutzen-Rechnung ohne alle emotionale Aufruhr bereits zu dem Ergebnis führen müsste, die Finger vom genetischen Code der Esten zu lassen. Wie soll die Verfügbarkeit eines Pools von persönlichen Daten, der genetische Datenausverkauf und die beharrliche Analyse eines Nukleotiden-Puzzles nicht zu verkrampfter Neugier auf das weite Feld der kosteneinsparenden Human-Manipulation führen, insbesondere da die innige Verschmelzung der wissenschaftlichen und der wirtschaftlichen Eliten für den betroffenen Normalbürger kaum nachvollziehbar ist?

Andreas Weber hat im SZ-Magazin vom 23.11.2001 die baltische Alternative zu Darwin und dem mit ihm in der Biologie hoffähig gemachen Konkurrenzdenken am Anfang des letzten Jahrhunderts aufgezeigt, verbunden gleichsam mit einem stummen Appell an die Esten, sich der Leistungen dieser Wissenschaftler zu besinnen, anstatt ihr Erbmaterial unersättlichen Wissenschaftlern zu überantworten: Die autonome Innenwelt des Subjekts, wie sie ein Jakob von Uexhüll postulierte und zu beweisen suchte, sowie die Biosemiotik eines Ernst von Baer, für den das Genom metaphorisch gesprochen keine zellinterne Betriebsanweisung, sondern eine Art neutraler Verfassungstext war, sind Abzweigungen vom wissenschaftlichen Mainstream, die heute höchstens noch belächelt werden.

Es bleibt lediglich zu hoffen, dass der grossprecherischen Ankündigung des Projekts ein kleinlauter Abbruch ante rem folgt, vielleicht im Zuge einer Haushaltskonsolidierung, denn: Aller Anfang ist schwer, auch und gerade für den gebeutelten Staatsfiskus.

 Autor: jvs
 Veröffentlichung: 11. März 2002
 Kategorie: Bericht
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