So leid es mir tut, das sagen zu müssen: Michael Kuffer hatte Recht mit seinem Tweet am 10.05.2018. Nicht, weil die Situation so war, sondern weil wir vom Bündnis #noPAG nicht die richtige Kraft entfaltet haben. Dieser Text soll keine Schuldzuweisung sein, sondern versucht zu analysieren, warum es nicht gelungen ist, mit großen Demonstrationen die Stimmung so zu drehen, dass durch die Landtagswahl in Bayern ein Politikwechsel eingeleitet werden konnte. Alle Zitate sind aus dem Buch „Twitter and Tear Gas. The Power and Fragility of Networked Protest“ von Zeynep Tufekci (Yale University Press, New Haven und London, 2017, auch als Download verfügbar).
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Michael Kuffer twitterte während der erfolgreichen #noPAG-Demo am 10.05.2018: „0,3% der Wahlberechtigten in Bayern demonstrieren gegen das neue Polizeiaufgabengesetz. Das ist respektabel und deren gutes Recht. Aber es zeigt auch, dass die Bayern fast vollständig geschlossen hinter unserer konsequenten Sicherheitspolitik und dem neuen PAG stehen. 👍 #nopag“
Er hatte damit leider Recht behalten, weil es uns als Aktivisten nicht gelungen ist, die vielen Menschen, die nicht nur in München, sondern im Voraus bereits in anderen bayerischen Städten wie Regensburg auf die Straße gegangen sind, zu mehr als nur einem Zeichen zu bewegen.
Dabei waren die Voraussetzungen gut: Die CSU war durch den Protest überrascht, weil die Verschärfung von 2017 problemlos durch den Landtag gegangen war, es keine Proteste gegen die Einführung der „drohenden Gefahr“ im PAG gab. Das war dieses Jahr anders, und die CSU sah sich einer Stimmung von links gegenüber. Das Bündnis #noPAG war Thema im Landtag, und der Opposition ist es gelungen, die Vorwürfe der Verfassungsfeindlichkeit des Bündnis zu entkräften.
Ähnlich verhielt es sich mit der #ausgehetzt-Demo am 22.07.2018. Auch hier schlug die CSU nur blind um sich, indem sie an der Route der Demo Plakate aufhing, die einer Demo gegen Hetze selbst Hetze vorwarf, vermutlich der schlechtest mögliche Schachzug: Es kam zu einer erneuten großen Demo, viele wurden durch die Verbreitung der Plakate in Sozialen Medien noch animiert, auch bei starken Regen zu kommen. Eine anschließende Kampagne in den Sozialen Medien der CSU (#IchBinCSU) verfing nicht und wurde ins Lächerliche gezogen.
Dennoch konnten diese großen Proteste die Landtagswahl nicht entscheiden. Das lässt sich mit den Protesten gegen den Irak-Krieg 2003 vergleichen:
„In February 2003, i attended an antiwar march in New York, part of a massive global wave of movements opposing the looming war in Iraq. The Guinness World Records called it the largest antiwar rally in history, with protests in nearly 600 cities around the world. […]
I thought to myself that surely world leaders could not ignore such a massive, loud, global outcry and drag us into a calamitous war.
I was wrong.
Just a few days later, U.S. president George W. Bush declared that he was not “going to decide policy based upon a focus group”—in reference to the antiwar movement. Just one month later, he launched the invasion. The war would last many years.“ (Tufekci, S. 189)
Warum ist es der Anti-Kriegsbewegung nicht gelungen, den Krieg zu verhindern? George W. Bush hat die Protestierenden als „Focus Group“ bezeichnet und marginalisiert und darauf gesetzt, dass sich das Verhalten nicht im Wahlergebnis im folgenden Jahr niederschlagen wird. Damit sollte er Recht behalten: Er wurde 2004 als Präsident wiedergewählt, die Republikaner haben sogar noch 3 Sitze im Repräsentantenhaus dazu gewonnen, im Senat gab es keine Machtverschiebung. Der Protest blieb de facto wirkungslos.
Es gibt noch weitere Parallelen zu den Protesten vor 15 Jahren: Auf den Demos waren sehr viele junge Menschen zu sehen, die durch das Thema politisiert wurden. Unsere Aufgabe ist es jetzt, ihnen zu zeigen, dass ihr Engagement nicht umsonst war. Da sind auch die Parteien gefragt: Die Mitorganisatoren müssen weiter klar machen, dass sie hinter den Zielen der Bewegung stehen und dürfen nicht wie die Demokraten in den USA den Krieg weiter betreiben. In Großbritannien hat die Unterstützung des Irak-Kriegs Labour auf Jahre hinaus die Unterstützung der damaligen Protestierenden gekostet.
Die Parteien müssen also in den anderen Bundesländern die Verschärfung der Polizeigesetze bekämpfen, auch wenn sie an der Regierung sind. Ob sie dazu bereit sind, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
„Huge numbers of participants alone are not magic either, especially because there are always large numbers of people who are not participating in a protest as well. In 1972, despite years of massive and widespread protests against the Vietnam War, Richard Nixon was reelected as the U.S. president in a historic landslide. Earlier, he had called for the support “silent majority” to refer to Americans who did not join the protests. It turned out that he succeeded in convincing many people to vote for him.“ (Tufekci, S. 190)
Das betrifft besonders Bewegungen, die durch digitale Medien, speziell Social Media entstehen. Diese Bewegungen entstehen sehr schnell und schaffen es häufig, an traditionellen Medien vorbei eine eigene Dynamik zu entwickeln. Interessant ist hier in diesem Zusammenhang Occupy Wall Street. Ihnen ist es gelungen, nur über Social Media eine große Bewegung zu organisieren.
„Occupy’s impressive narrative capacity was not matched by electoral or institutional capacity partly because of emergent conditions of the movement and partly because of the cumulative choices of its participants. Occupy had scaled up quickly, leveraging the affordances of digital technologies to overcome mass-media indifference, local government hostility, and police pressure.
Thanks to twenty-first-century technologies, such rapid scaling up can happen without organizational infrastructure, whether formal or informal. With little organizational structure, though, the movement could not easily undertake large-scale efforts beyond the occupation, its original step. It had no effective means to make decisions to do anything else, or any strategic capacity for shifting tactics. It did not signal an electoral, institutional, or disruptive threat to power.“ (Tufekci, S. 214f)
Ähnlich ist mit der Bewegung #noPAG passiert: wir haben große Demonstrationen mobilisiert, im Fall der Demo vom 10.05. in kürzester Zeit. Bestimmte Akteure haben bereits im Sommer 2017 versucht, gegen die damalige Verschärfung des PAG eine Bewegung zu starten, was aber nicht gelang. Im April war es dann möglich. Durch einige gut vernetzte Akteure war es sogar möglich, den Hashtag #noPAG weltweit bei Twitter als Trending Topic zu etablieren. Dadurch wurde die Thema sogar von Al-Jazeera in einer Ausgabe von The Stream aufgegriffen.
Auch die #JetztGilts vom 3.10. war zahlenmäßig ein großer Erfolg. Sie zeigte aber keine Wirkung. Selbst die Wahlergebnisse der an den Demos beteiligten Parteien haben sich nicht geändert: Die SPD hat stark verloren, die LINKE ist klar an der 5%-Hürde gescheitert, sowohl die PIRATEN als auch mut lagen deutlich unter 1%, obwohl alle drei Parteien auf allen Großdemos in München auf dem Podium standen und geredet haben. Ein Effekt lässt sich nicht feststellen.
Aber der Bewegung ist es nicht gelungen, Aktionen durchzuführen. Eine Verfassungsklage gegen das PAG ist durch das Bündnis eingereicht, ebenso sind weitere Verfassungsbeschwerden, verfassungsrechtliche Meinungsverschiedenheiten und Klagen beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof und Bundesverfassungsgericht anhängig. Klagen bringen aber nicht zum Ausdruck, dass man genügend Einfluss besitzt, eine Wahl zu entscheiden.
Hier hat es gefehlt. Die Parteien im Bündnis haben noPAG nicht zum entscheidenden Thema der Landtagswahl gemacht, auch andere Aktionen wie ein Volksbegehren wurden diskutiert, es kam aber nicht dazu. Auch, weil ich mich nicht getraut habe, als Beauftragter der bayerischen Piraten unserem Landesvorstand klar zu sagen, dass ein Volksbegehren das Richtige wäre, um das PAG zu kippen und wir es im Zweifelsfall auch alleine stemmen können.
Somit konnte die Bewegung trotz der vielen Menschen auf der Straße nicht signalisieren, dass die Verschärfungen des PAG ein wahlentscheidender Faktor sein würde. Vermutlich war die Bewegung im Juli bereits an dem Punkt anbelangt, an dem eine Wahlentscheidung durch das Thema PAG nicht mehr möglich war.
Das Verhalten der Freien Wähler ist dabei interessant: Sie haben zwar gegen die Änderungen am PAG gestimmt, allerdings nicht aus Überzeugung, sondern aus taktischen Gründen. Wäre das Bündnis #noPAG ein Erfolg geworden, hätten sie sicherlich mit uns gemeinsame Sache gemacht. So ist das bereits mit dem Volksbegehren zur Abschaffung der Studiengebühren passiert: Ursprünglich von den PIRATEN gestartet, sahen die Freien Wähler eine große Bewegung im Entstehen. Also haben sie ein eigenes Volksbegehren zum selben Thema begonnen, durch die breitere Aufstellung der Freien Wähler war es ihnen einfacher möglich, die nötigen Unterschriften zu sammeln.
Exkurs: Social Media, Proteste, Medienkompetenz
Zeynep Tufekci hat bereits 2011 festgestellt, dass es sich beim Arabischen Frühling 2011 nicht um eine Twitter- oder Facebook-Revolution handelt, niemand würde die Französische Revolution 1789 als Druckerpressenrevolution bezeichnen. Es handelt sich in beiden Fällen um neue Technologien, die neue Protest- und Mobilisierungsformen ermöglicht haben. Sie haben auch zu jeweils neuen Organisationsformen für Widerstand geführt. Aktuell sieht man es auch an den Protesten der Gelbwesten in Frankreich, die dezentral in Facebook-Gruppen organisiert werden. Es gibt keine Führungsschicht, keine konkrete poltische Forderung, es handelt sich um eine I’m as mad as hell, and I’m not going to take this anymore!-Revolte.
Die Frage stellt sich, ob es der Bewegung gelingen wird, sich zu verstetigen und sich inhaltlich einig zu werden, oder ob sie von rechten Kräften übernommen wird, weil es ihnen am besten gelingt, diese aktuell reine Anti-Haltung vertreten zu können, oder ob die Bewegung ähnlich wie Occupy Wall Street abflauen und verschwinden wird. Wir werden sehen.
Den Vergleich der Effekte von Social Media mit denen der Druckerpresse macht auch Kathrin Passig 2016, in ihrem Fall allerdings deutlich pessimistischer. In Kürze: Neue Technologien finden neue Nutzer, einerseits auf der Konsumentenseite, aber auch auf der Produzentenseiten. Lesen wurde durch die Druckerpresse zu einer Alltagstätigkeit für breitere Schichten, gleichzeitig war die Verbreitung der Gedanken Martin Luthers leichter möglich. Mit Flugblättern konnte Propaganda verbreitet werden, aber die Medienkompetenz wuchs nicht im selben Maß. Dadurch wurde der 30jährige Krieg ausgelöst. Erst später wurden Zeitungen herausgegeben, deren Redaktionen die Aufgabe hatten, Behauptungen einzuordnen und denen vertraut wurde.
Ähnlich verhält es sich mit Social Media. Es wird einfacher, eigene Meinung zu verbreiten, vor allem an Redaktionen vorbei, die traditionell zumindest einen Faktencheck vorgenommen haben. Wir befinden uns also in einem neuen Flugblatt-Propaganda-Modus, die Medien sind jetzt das Feindbild wie es die Herrschenden in den Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts war, sie werden quasi zu einem Instrument der Herrschenden stilisiert. Das Ergebnis sind der Glaube an Fake-News, wenn sie das eigene Weltbild stärken und eine Ablehnung von Fakten, die nicht passen, wie die Impfgegner-Szene dauernd beweist.
Desweiteren tragen auch die Plattformen ihren Teil dazu bei: Bei Youtube gelangt man sehr schnell auf Verschwörungstheorien, weil der Algorithmus nur ein Ziel kennt: Die Nutzer möglichst lange auf der Plattform zu halten. Extremere Videos funktionieren da vermutlich besser, so dass man relativ schnell bei extremen Videos landet. Wer ein Video über Vegetarismus ansieht, wird ziemlich schnell Videos zu Veganismus empfohlen bekommen.
Wie weitermachen?
Ich sehe zwei Möglichkeiten, die beide genutzt werden sollten. Das Bündnis und die Strukturen noPAG sollte weiter bestehen und arbeiten. Allerdings müssen unsere Ressourcen klug eingesetzt werden. Auch hier gibt es ein gutes Beispiel aus der Geschichte:
„The 1955–56 Montgomery bus boycott to protest racial segregation and mistreatment in the bus system faced major logistical challenges at every juncture. Although Montgomery’s African American population had suffered great hardships, on the surface, the town had been relatively quiet for years. Underneath, a flurry of organizing had been taking place that would become visible to the rest of the world only with the historic boycott.
Although many people know the name of Rosa Parks, she was not the first to be arrested for protesting racial segregation on a bus in Montgomery. Earlier that year, in March 1955, a fifteen-year-old girl, Claudette Colvin, was arrested under circumstances almost identical to Rosa Parks’s December arrest: refusing to give up her seat and move to the back of the bus. There were others as well.
The head of the Montgomery NAACP chapter, Edgar Nixon, had been looking for a case to legally challenge and protest the segregated bus system in which African American riders were often treated cruelly; some had been shot at for challenging mistreatment. Each time after an arrest on the bus system, organizations in Montgomery discussed whether this was the case around which to launch a campaign. They decided to keep waiting until the right moment with the right person. Finally, Rosa Parks was arrested for her defiance. Unlike young Claudette Colvin, Parks was an NAACP secretary and volunteer, a committed and experienced activist.“ (Tufekci, S. 62f)
Wir müssen also mit der noPAG-Bewegung auf den richtigen Moment warten, um wieder groß loszuschlagen. Dafür müssen die bestehenden Strukturen erhalten und gepflegt werden. Was noch wichtig ist: Es benötigt ein Vertrauen gegenüber denjenigen, die zum entsprechenden Zeitpunkt entscheiden, mit Aktionen zu beginnen. Ob es uns gelingt, wird sich zeigen. Politisch arbeitet das Bündnis zum Glück weiter, auch die bundesweite Vernetzung der Bündnisse gegen Polizeigesetze besteht und wird vertieft, was ein Schritt in die richtige Richtung ist.
„The capacity developed in organizing various structures of the boycott movement was crucial to its success. After both long-term organizing and working together during the boycott to take care of a myriad of tasks, the movement possessed a decision-making capability that saw it through challenges as they came up, and one that was strong enough to survive outside pressure and internal strife.“ (Tufekci, S. 65)
Das ist notwendig, um die Verschärfungen des PAG zurückdrehen zu können.
Wenn das übergeordnete Ziel nicht aus den Augen gelassen wird, nämlich einen tatsächlichen Politikwechsel voranbringen zu können, müssen wir bei der nächsten Chance darauf achten, dass wir nicht nur große Menschenmengen auf die Straße bringen, sondern gleichzeitig auch signalisieren, dass diese Proteste einen Wechsel in der Politik durchbringen können. Die Chancen sind zu selten, um sie liegen zu lassen.